Prof. Werner Zorn ist inzwischen am Hasso-Plattner-Institut der Uni Potsdam bei Berlin tätig. [Kontakt]
Die in diesem Beitrag verwendeten Abkürzungen sind im Anhang (Punkt 10) erläutert. Kommentare und Verweise sind mit [Ed: ...] hinzugefügt.
Inhalt:
Buchbeitrag
Werner Zorn
Über die verfehlte deutsche Internet-Entwicklung
Aus "Politik & Internet" der Akademie für das 3. Jahrtausend
von Dr. Christa Maar und Prof. Claus Leggewie (Hrsg.)
(erschien im Frühjahr 1998 im Bollmann-Verlag)
www.ira.uka.de/i32
30.11.1997
1. Kognitive Dissonanz
"Es ist nicht wahr, daß wir zurückgefallen sind, sondern die Wahrheit ist, daß kaum ein Land in dieser Welt so gut auf das Multimediazeitalter vorbereitet ist wie die Bundesrepublik Deutschland". So der Bundesforschungsminister in der Debatte des Bundestages über das IuKDG, das sog. Multimediagesetz, am 18.04.97. Knapp ein halbes Jahr hat sich die Situation sogar noch weiter verbessert: "Deutschland steht bei den Infrastrukturen für die Wissensgesellschaft auf Platz 1 der Weltrangliste. Die Leistungsdaten können sich sehen lassen: ..." liest man in dem Strategiepapier Multimedia möglich machen des BMBF.
Denkt man hierbei an das Internet als die derzeit alle Grenzen des Wachstums durchbrechende Plattform einer künftigen globalen Informationsgesellschaft, so kann man auch zu einer ganz anderen Einschätzung gelangen: So veröffentlichten die "VDI-Nachrichten" in ihrer Ausgabe vom 27.06.97 unter der Überschrift "Internet in Deutschland ein Trauerspiel" meine eigene Auffassung, die zusammengefaßt lautet: "Internet spielt eine immer wichtigere Rolle in Deutschland, aber Deutschland spielt überhaupt keine Rolle im weltweiten Internet außer als Markt für ausländische Produkte und Dienstleistungen", welche breite Zustimmung im Leserkreis fand [Zo 0697].
Fragt man den obersten Repräsentanten und einen der von Anfang an Hauptverantwortlichen für den Aufbau des Deutschen Forschungsnetzes DFN, auf welches das Forschungsministerium praktisch seine gesamte Netzförderung in den vergangenen 15 Jahren konzentriert hat, den Vorsitzenden des Vorstandes des DFN- Vereins, so resümiert dieser in seinem Geleitwort der "DFN- Mitteilungen" Nr. 43 vom März 1997 wie folgt: "Das grundlegende Organisationsprinzip des Deutschen Forschungsnetzes, Aufbau der benötigten Infrastruktur aus eigener Zielsetzung und solidarischer Anstrengung, hat sich jetzt über lange Zeit bewährt und wird zunehmend das Muster von Entwicklungen im Ausland, so in jüngster Zeit für das US- amerikanische Internet II" und dankt mit der frohen Botschaft: "Die Situation könnte kaum besser sein" allen Förderern und Ratgebern, allen voran dem BMBF, gefolgt von den Landeskultusministern, dem Wissenschaftsrat und dem Technologierat des Bundeskanzlers, die alle mit Nachdruck hinter dem Projekt stehen.
2. Wer hat recht?
Es mag einen Außenstehenden schon irritieren, wenn er sich mit solch diametral unterschiedlichen Auffassungen konfrontiert sieht, noch dazu geäußert von Wissenschaftlern, von denen man üblicherweise Objektivität und Sachverstand erwartet und die zudem Insider sind. Die Erklärung ist im vorliegenden Fall einfach: die verfolgten Ziele und die an das Erreichte angelegten Bewertungsmaßstäbe sind völlig verschieden.
Zur Veranschaulichung möchte ich eine Graphik des brasilianischen Staatssekretärs Dr. Ivan Campos verwenden, von dem das Spiralmodell der US- amerikanischen Internet- Entwicklung stammt (Bild 1), welches inzwischen zu einem der Wappenzeichen des vom DFN- Vorsitzenden angesprochenen Internet II- Projektes geworden ist [Ca 96]:
Bild 1: Internet-Entwicklung
Es zeigt das Wachstum aus kleinen Anfängen in der Forschung und Entwicklung (1.) über die öffentliche Förderung der Erprobung (2.), und den praktischen Betrieb mit kommerziellen Partnern (3.) in den breiten Markteinsatz (4.), mit dem erneut aus F&E heraus angetriebenen nächsten Umdrehungszyklus des Tornados, welcher Internet heißt. Die USA haben hierbei den Internet- Weltmarkt, welcher sich in Multimilliarden beziffert, inzwischen auf allen Ebenen besetzt und fest im Griff.
Bild 2: DFN-Entwicklung
Wie steht es demgegenüber mit den deutschen Anstrengungen? Den Versuch einer vergleichbaren Darstellung der hiesigen Netzentwicklung unternimmt Bild 2. Es zeigt die 1. Phase der (8490) mit ca. 60 100 Mio DM geförderten erfolglosen OSI- Entwicklung, auf die die 2. Phase (9096) des X.25- WIN folgte, in der man für das Basisnetz im wesentlichen nordamerikanisches Gerät einkaufte und erlebte, wie sich hierauf "wie der Wind" Internet- Standards ansiedelten. Nachdem sich dieses so gut bewährte, blieb man beim Aufbau des Breitband- Wissenschaftsnetzes B- WIN in der 3. Phase (9699) dabei, und kaufte mit guten Rabatten die Switches von GTN und die Router vom Haus- und Hof- Lieferanten CISCO. Für die Zeit nach 99 (4. Phase) laufen bereits die Planungen für ein Gigabit- Netz, in dem auch wohl kaum mehr heimisches Gerät zum Einsatz kommen dürfte.
In der gesamten 15- jährigen Förderungsphase hat das Projekt nie die untere Halbebene des Wissenschaftsbereichs verlassen, weder Internet- Standards hervorgebracht noch international wettbewerbsfähige Produkte, keine blühende Firmenlandschaft um sich herum geschaffen noch erkennbar Steuereinnahmen für den Staat generiert, aus denen sich der nächste Evolutionszyklus hätte finanzieren können.
Wer hat also Recht? Gemessen an der Zielsetzung, eine Infrastruktur für die Wissenschaft zu schaffen, kann man die Politik des BMBF bei etwas gutem Willen vielleicht noch als erfolgreich ansehen, an der viel weitergehenden und volkswirtschaftlich bedeutsameren, nämlich einen Beitrag zur Erhöhung der nationalen und internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen IT- Industrie zu leisten, muß sie nicht nur als gescheitert, sondern im Gegenteil sogar als ausgesprochen kontraproduktiv bezeichnet werden. Folgt man dieser Auffassung, so muß man den Versuch, eine deutsche Vorbildrolle für das Internet II- Projekt in den USA zu postulieren, als Teil unseres Problems betrachten: "Good News, only Good News!" um die Geldgeber bei Laune zu halten.
Wie konnte es dazu kommen?
3. Von den Ursprüngen der deutschen Netzentwicklung
Der Beginn der öffentlich geförderten Netzentwicklung in Deutschland kann auf das Jahr 1982 datiert werden, auch wenn es Vorläuferprojekte in Gestalt des NRW- Jobverbundes, des niedersächsischen Rechnerverbundes NRV und der Berliner Projekte BERNET und HMINET II gab, und der eigentliche Startschuß für das DFN- Projekt erst 1984 fiel, fast zeitgleich mit dem Start des deutschen EARN, ebenso wie der EUNET- und CSNET- Dienste.
Damals herrschte im Kommunikationsbereich eine ungeheure Aufbruchstimmung: X.25 begann zu funktionieren, nebenbei der bis heute einzige weltweit angebotene zuverlässige öffentliche Datenkommunikationsdienst, Btx versprach europaweit durchgängige Informationsdienste für den Bürger ebenso wie für den Gewerbetreibenden, ISDN als der allumfassende digitale Telekommunikationsdienst war in Sicht und aus den vorangegangenen BMFT- Förderprojekten, dem II. DV- Programm samt ÜRF mit der Gründung der Informatik an den deutschen Hochschulen (7175) sowie dem III. DV- Programm (7679), welches die Zusammenarbeit eben dieser Informatik mit der deutschen DV- Industrie in breiter Front initiiert hatte, lagen überwiegend positive Erfahrungen vor. Reisen in die USA weckten den Wunsch nach Arpanet- und Ethernet- ähnlichen Infrastrukturen.
4. Die Ziele 1982
Bereits auf dem ersten Treffen am 4./5.3.82 bei DESY in Hamburg, zu dem der Initiator und Vater des DFN Karl Zander vom Hahn- Meitner- Institut in Berlin(HMI) zusammengerufen hatte, wurden die beiden übergeordneten Ziele der Förderung genannt, nämlich den Aufbau einer leistungsfähigen Netzinfrastruktur für die Wissenschaft und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Beide Ziele ziehen sich seither durch sämtliche Planungspapiere, Projektanträge, Festreden ebenso wie Grußworte und Editorials und leuchten wie 2 rote Laternen im Nebel der vor einem liegenden Ungewissheit.
Liest man heute die Ansprache des damaligen Forschungsministers Dr. Heinz Riesenhuber im Rahmen der Gründungsveranstaltung des DFN- Vereins am 30.3.1984 nach, so war diese nahezu von prophetischer Weitsicht:
In dem größten Kommunikationsprojekt und einem der größten Verbundprojekte des BMFT überhaupt sollte etwas völlig Neues entstehen, der Verbund der Verbünde mit völlig neuen Kommunikationsformen, eine Informationslandschaft, die so durchschaubar wird, daß sich Partner über ein Netz von Informationen in natürlicher Weise ohne Organisation "von oben" finden und an gemeinsamen Zielen zusammenarbeiten können. Was war dies anderes als eine Vision des Internet als dem weltweiten Netz der Netze mitsamt dem anwenderfreundlichen WWW- als nur einem der zahlreichen Internet- Dienste?
Und ganz konkret gab er folgende Marschrichtung vor:
- Mit Fakten Normen beeinflussen (ISO/OSI, CCITT),
- Deutschland übernimmt die Federführung für Europa,
- Aus den Fehlern des geschlossenen Arpanets in den USA lernen,
- Ein Verein der Kundigen sollte anstelle des hoheitlichen Staates die Gestaltung übernehmen (DFN- Verein).
Gleichzeitig wies er jedoch bereits damals auf die möglichen Gefahren und Fehlentwicklungen innerhalb des DFN- Projekts hin: auf die Distanz zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, die Dominanz des Staates, auf die Entstehung von Bürokratien mit ihren Abschottungstendenzen, auf die Abhängigkeit von dauerhaften Subventionen, auf die verheerenden Folgen eines technologischen Rückstands für den Arbeitsmarkt hierzulande, auf die Abhängigkeit der Forschung von der Förderung, wenn sie sich nicht aus ihren eigenen Märkten refinanzieren kann und auf doktrinäre Festlegungen auf einmal verabschiedete Konzepte. Erfolgreich, so der Forschungsminister damals, werde das Projekt erst dann sein, wenn die Mitwirkung des Staates überflüssig geworden sei.
5. Von den falschen Weichenstellungen in den 80ern
Nun wissen wir heute, daß sich das Internet in Deutschland nicht dank, sondern trotz der BMFT- Förderung durchgesetzt hat, deutlicher gesagt gegen dieselbe, denn das BMFT hat die Internet- Technologie mittels des DFN- Vereins als nicht OSI- konform jahrelang regelrecht bekämpft. Auch wenn das Scheitern von OSI gegenüber der TCP/IP- Protokollwelt des Internet nicht dem BMFT angelastet werden kann, soll an dieser Stelle doch die Rolle und möglicherweise die Fehlsteuerung der weiteren Netzentwicklung hierzulande durch die Politik und der von ihr maßgeblich beeinflußten Institutionen und Personen betrachtet werden. Hierzu gehörte sicher das Problem, daß gerade diese visionäre Rede des Forschungsministers die Handlungsanweisungen enthielt, die die mit der Durchführung Betrauten auf den unteren Schichten unter Vernachlässigung des "Geistes der Rede" in den folgenden Jahren diensteifrig in die falsche Richtung schickten.
Wie weit man dabei gerade mit seiner Einschätzung bezüglich des Arpanet von den tatsächlichen Entwicklungen in den USA entfernt war, läßt sich daran ersehen, daß bereits im Jahr 1983 (01.01.) mit der Umstellung auf TCP/IP die Öffnung des in Richtung Internet eingeleitet war, die Zahl der angeschlossenen Rechner 1984 bereits die 1.000er- Marke durchbrochen hatte und sich jährlich zu verdoppeln begann.
Zu den aus heutiger Sicht ebenfalls falschen Weichenstellungen von Anfang an gehörte auch die Vorgabe, die bereits in den Arbeitsunterlagen zum 1. Treffen vom 4./5.3.82 enthalten war: "Auf Wunsch des BMFT sollen ggf. interessierte Hersteller über Kontakte zu deren Forschungsabteilungen (und nicht zu den produktorientierten Abteilungen) wenigstens über einen Informationsaustausch einbezogen werden". Daraus klingt die damalige große Befürchtung, die "bösen" DV- Hersteller könnten versuchen, irgend welche proprietären Funktionen in die künftigen offenen Standards einzubringen, mit Hilfe derer sie sich Wettbewerbsvorteile verschaffen könnten.
Statt dessen setzte man auf die Bundespost, die von Amts wegen für Netze und Kommunikation zuständig war und der man bezüglich der internationalen Normung Neutralität und gleichgelagerte übergeordnete Interessen unterstellte. Hiermit hatte man sich jedoch mit einem Partner verbündet, der mit seiner dauerhaften Sprachdienst- orientierten Hochtarifpolitik die Datenkommunikation, und damit die Entwicklung der Rechnernetze hierzulande praktisch erwürgte. Zum Schutz der Tarife wurde damals mit dem X.25- basierten DATEX-P ein separater Datenkommunikationsdienst aufgebaut, der Byteweise abgerechnet wurde, und damit nur für niedervolumige Anwendungen wie den zeichenweisen Primitivdialog und Email taugte. Die Integration in das künftige ISDN, welches erhebliche Kostenvorteile gegenüber DATEX-P erwarten ließ, war bereits auf einen späteren Entwicklungsschritt verschoben worden. Zudem betrachtete die Bundespost damals alles, was sich an standardisierter Datenkommunikation auf ihren Netzen ansiedeln würde, unter der Überschrift "Telematik- Dienste", allen voran Email, als ihre ureigenste Domäne.
Hiermit war auch die Marschrichtung für das BMFT und den DFN- Verein vorgegeben, wobei man für die anzuschließenden wissenschaftlichen Rechenzentren den Scope über die öffentlichen Weitverkehrsnetze (WANs) hinaus in die lokalen Netze (LANs) hinein erweiterte. Wie sehr man sich dabei mit der Bundespost technisch und administrativ einig wähnte, war nicht nur daran zu erkennen, daß mit Fördermitteln überall X.25 Untervermittlungen plaziert wurden, sondern daß z. B. der Kürzel DBP für die Domänenadresse der im DFN- Verein zusammengeschlossenen wissenschaftlichen Einrichtungen verbindlich vorgegeben wurde. Damit wurde theoretisch der gesamte deutsche Wissenschaftsbereich zum Email- Versorgungsgebiet der Deutschen Bundespost deklariert.
Praktikern war klar, daß dies so nicht funktionieren würde und so erhob sich bereits sehr bald Kritik am eingeschlagenen Kurs. Am deutlichsten war diese in jenem denkwürdigen Leitartikel "Quo vadis DFN?" von Hans Meuer und Martin Wacker zum Ausdruck gebracht, in dem es u. a. hieß:
Der vom DFN- Verein als OSI- unabdingbar proklamierte X.25-Datex P- Dienst der Bundespost wird den Nutzern noch teuer zu stehen kommen, falls wirklich einmal nennenswerte Datenmengen transportiert werden sollten". Und weiter unten: "Das Zeitfenster, welches dem DFN- Verein zum erfolgreichen Aufsetzen eigener Produkte zur Verfügung steht, schließt sich unaufhaltsam. Andere und bessere Lösungen kommen auf den Markt. Fachleute fragen sich, warum der DFN- Verein sich im Bereich der Basisdienste überhaupt in Eigenentwicklungen gestürzt hat, statt soweit als möglich existierende Lösungen zu verwenden und zu warten, bis diese nach und nach durch neue Standards abgelöst werden. Daß dies nicht nur der schnellere, sondern auch der kostengünstigere Weg ist, exerzieren EARN und EUNET hierzulande derzeit vor. [MeuWa 86].
Bereits ein Jahr früher hätte man die Botschaft von Fachleuten aus dem Ausland hören können, so z. B. von Peter Kirstein in seinem Vortrag " The University College London International Computer Communications Interconnection Service" im März 1985 in Karlsruhe, in der er mit Blick auf Internet ebenso wie auf ISO/OSI nicht nur sämtliche relevanten Probleme adressierte, sondern gleichzeitig auch noch die Lösungen mitlieferte. Dazu sei angemerkt, daß das UCL bereits seit 1973 eine Arpanet- Anbindung unterhielt und die Internet- Standards seither durch zahlreiche RFCs (Request for Comments) mit beeinflußte. Man hätte viel Zeit und viel Geld sparen können, wäre man Peter Kirsteins Hinweisen damals gefolgt.
Während man also andererorts auf der Welt die rapiden Veränderungen wachsam mitverfolgte oder -gestaltete und sich flexibel und pragmatisch darauf einstellte, hielt man im BMFT unbeirrt an dem einmal eingeschlagenen Kurs fest und bekämpfte nach besten Kräften alles, was sich einem dabei in den Weg stellte: EARN, CSNET, lästige Kritiker, aufmüpfige Anwender, widerborstige Unis, abtrünnige Bundesländer und immer wieder TCP/IP, wo immer es gefährlich zu werden drohte. Wer umgekehrt das ISO/OSI- Lied sang, war hochwillkommen und wurde mit Fördermitteln reich belohnt.
Während man in den USA 1986 mit dem 56 kbps- NSFNET- Backbone Internet den zweiten entscheidenden Expansionsschub verpaßte, JANET in England schon längst sein eigenes privates X.25- Netz mit vielfältigen Auslandsanbindungen nutzte und in Finnland bereits die Planungen für einen öffentlichen 2 Mbps- IP- Backbone liefen, kokettierte man in Berlin noch damit, ein "Verein ohne Netz" zu sein und erfand allerlei Rabulistik, warum man auch keines brauche. Dabei hätte man gar nicht so weit zu schauen brauchen, nämlich nur nach Baden- Württemberg, wo mit dem 10/100 Mbps Landeshochschulnetz BelWü das damals schnellste IP- Netz der Welt betrieben wurde. Als Anfang 1990, nachdem bereits mehr als 100 Mio DM an Fördermitteln ausgegeben waren, das später zurecht als "Schmalband- WiN" bezeichnte 9.6/64 kbps Wissenschaftsnetz des DFN- Vereins in Betrieb ging (und sofort ein IP- Netz darüber gelegt wurde), konnte sich eigentlich niemand mehr so richtig freuen, denn der internationale Zug war längst abgefahren.
Was man mit den bis dahin ausgegeben 100 Millionen Anderes, Sinnvolleres hätte machen können, ist schwer zu sagen, denn Geschichte passiert immer nur einmal. Trotzdem ein kleiner Zahlenvergleich: die USA- Anbindung des BelWü erfolgte damals über ein Drittmittelprojekt namens Xlink an der Informatik Karlsruhe, welches vom Land als Nutzungsentgelt für den Zeitraum 11/89 bis 06/94 insgesamt rund 800 TDM erhielt. Xlink ist seit seiner Ausgründung im Nov. 1993 in die Bull Deutschland AG als kommerzieller ISP (Internet Service Provider) auf dem Markt tätig und peilt im Jahr 1997 die 50 Mio Umsatzgrenze an. Übertragen auf die BMFT- Fördermittel käme man dann auf über 6 Mrd. DM Umsatz. Unrealistisch? Vielleicht doch nicht. Denn allein AOL, welches weltweit derzeit mehr als 10 Mio Nutzer zählt, kommt in 1997 selbst nach Abgabe des reinen Netzgeschäfts an WorldCom noch auf einen Umsatz von über 2 Mrd. DM, eine Zahl, mit der hierzulande Bertelsmann erst im Jahr 2000 rechnet
6. Über den langfristigen Schaden
Man kann getrost behaupten, daß es in der neueren Industriegeschichte kaum ein Ereignis von solcher Tragweite gibt wie das Scheitern der ISO/OSI- Standards gegenüber TCP/IP. Nicht nur, daß die auf deutscher, bzw. europäischer Seite aktiv beteiligten Firmen Entwicklungs- aufwendungen in bis zu 3- stelliger Millionenhöhe abschreiben mußten, sie standen am Schluß noch dazu mit leeren Händen da, weil sie keine Parallelentwicklungen vorgenommen hatten. De facto gibt es keine deutsche Rechnernetzindustrie mehr von Bedeutung, alles ist fest in amerikanischer Hand. Hierfür trägt das BMFT mit seiner einseitigen Förderpolitik während der 80er Jahre ein gerüttelt Maß an Verantwortung. Zyniker verallgemeinern sogar und behaupten, daß keine DV- Firma eine öffentliche Förderung länger als 3 Jahre überleben würde Siemens ausgenommen. Warum? Weil bei den heutigen schnellen Produktzyklen die kurzfristige positive Rückkopplung über den Markt unerläßlich ist und diese durch Fördergelder abgeschaltet wird. Daß hierbei auch die übrige Wirtschaft sowie die gesamte Gesellschaft bei uns erst sehr viel später als in anderen Ländern auf die Internet- Entwicklung aufmerksam wurde, hat ebenfalls nachteilige Langfristeffekte. Netzfachleute bezifferten den deutschen Internet- Rückstand vor einiger Zeit auf 3 Jahre, die in vielen Bereichen unaufholbar sind im Wettbewerb. Selbst heute noch enthalten öffentliche Beschaffungsrichtlinien ISO/OSI- Vorgaben, durch die täglich neuer Schaden angerichtet wird.
7. Über die Wende 1990
Die Inbetriebnahme des Schmalband- WINs Anfang 1990 markierte den Anfang einer neuen Epoche, in der man seitens des BMFT und des DFN- Vereins zu entdecken begann, daß man mit Netzdiensten Geld machen, und zwar insbesondere mit Internet- Diensten. Was ursprünglich als eine Art Schutzzoll zugunsten von OSI gedacht war, entwickelte sich immer mehr zu einer echten Einnahmequelle, die inzwischen für alle Netzdienste zusammen im Jahr 1997 die stattliche Summe von 100 Mio DM erreicht. Damit ist der öffentlich geförderte und gemeinnützige DFN- Verein nach der Telekom mit Abstand der größte IP- Anbieter in Deutschland.
Während noch vor Jahren der Wissenschaftsbereich die Domäne von Startup- Firmen wie EUnet und Xlink war, sind diese fast vollständig aus diesem Marktsegment verschwunden.
8. Zusammenfassung und Sicht 1997
Der BMFT, heute BMBF hat seine gesamte Förderung im Bereich der offenen Rechnernetze während der letzten 15 Jahre in auf ein einziges Projekt konzentriert, das Deutsche Forschungsnetz DFN. Das Forschungsministerium hat hierbei im Zeitraum 19841997 rund 300 Mio DM an Fördermitteln aufgebracht, der Verein zusätzlich DM 250 Mio an Nutzunggebühren für Netzdienste eingesammelt, davon allein rund DM 100 Mio in 1997. Der eigentliche Vereins- haushalt, welcher sich aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und Zinserträgen speist, nimmt sich dagegen mit jährlich derzeit knapp DM 1 Mio vergleichweise bescheiden aus. Der Bund hat es dabei geschafft, über alle Bundesländergrenzen hinweg eine einheitliche organisatorische und technische Infrastruktur aufzubauen, an der mit rund 400 institutionellen Mitgliedern der gesamte deutsche Wissenschaftsbereich partizipiert und die von diesem getragen wird.
Der Verein bietet seinen Mitgliedern zu haushaltskonformen festen Jahresgebühren Carrier- und Mehrwertdienste mit Zugangsgeschwindigkeiten von 9.6/64 kbps (Schmalband Wissenschaftsnetz), über 2 M bis hin zu 34/155 M im Breitband- Wissenschaftsnetz an, wobei Planungen für ein Gigabit- Netz bereits anlaufen. Das DFN ist über das TEN-34 Konsortium in die 34 M- transeuropäische Infrastruktur eingebunden und mit derzeit 90 M Leitungen mit dem US- amerikanischen Internet konnektiert. Der Verein unterhält zahlreiche Arbeitskreise und Projektgruppen, in denen Kompetenzen auf wichtigen Feldern der Technologie, des Betriebs und der Nutzung von Rechnernetzen aufgebaut sind und deren Erkenntnisse der Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Über Initiativen wie "Schulen ans Netz" fördert der DFN- Verein den Breiteneinsatz von Netzdiensten und ist dabei ein wichtiger Partner im Rahmen der strategischen Initiative "INFO 2000, Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" der Bundesregierung. Soweit die positive Seite.
Gleichzeitig hat der DFN zum Schutz seiner Einflußdomäne eine weitgehende Abschottungspolitik gegenüber dem freien Markt im deutschen Internet betrieben. Er hat dies realisiert, indem er den Wissenschaftsbereich zur geschlossenen Benutzergruppe des DFN erklärt hat, für welche er technisch und administrativ ein lückenloses, bundesweit flächendeckendes privates Corporate Network aufgebaut hat. Ehemals vorhandene, bzw. potentielle neue Wettbewerber wurden durch prohibitive Tarife und verweigerte nationale Interkonnektivität aus dem eigenen Markt verdrängt, bzw. herausgehalten. Hierbei wurde ebenfalls die Entstehung wissenschaftsübergreifender Landesnetze bislang erfolgreich verhindert und der Markteintritt der neuen Carrier verzögert. Der öffentlich geförderte und gemeinnützige DFN- Verein hat sich zu keinem Zeitpunkt als Freund und Förderer der freien ISPs verstanden, sondern stets als Konkurrent und Gegenspieler und somit auch die Entstehung übergeordneter Strukturen nie zu seiner Sache gemacht. Trotzdem wollte er sich nie als Service Provider verstanden wissen, sondern als solidarische "Selbsthilfeeinrichtung der Wissenschaft". Hierdurch wurden die zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer üblichen Vertragsmechanismen außer Kraft gesetzt und die Lösung auftretender Probleme, z. B. schlechtes Leistungsverhalten, auf vereinsinterene Gremien verlagert. Der Verein ist nie aus der Phase der staatlichen Förderung herausgekommen und hat sich aufgrund seines Gesamtauftretens in der Internet Society mit ihren zahlreichen Gremien national wie international weitgehend isoliert.
Wie weit sich Deutschland dabei von der internationalen Entwicklung entfernt hat und wie wenig die Erfahrungen anderenorts berücksichtigt wurden, sei durch die auf der Gründungsveranstaltung der Internet Society 1991 formulierten Empfehlungen "Commercial IP Musts" für den Aufbau von Internet- Diensten verdeutlicht [Ad 91]:
- Complete, transparent interconnection among providers.
- Competing but cooperting providers no single provider dominating and dictating.
- Do not confuse production with research.
- T1 bandwidth serves 99 % of users *).
- T3 is unstable do not force new technology for sake of technology **) (do not ignore it either).
- Do not waste resources, it increases end users cost.
- Size of pipe is not as important as how to use it (40% idle T1 vs. 95% idle T3).
*) T1: 1.5 Mbps, **) T3: 45 Mbps.Wie sich andere Länder daran orientierten, ohne hierbei ihre nationalen Besonderheiten zu ignorieren, kann man z. B. in [Ca 96] für Brasilien nachlesen, worin auch der gute Rat enthalten ist: "Don't use tax payer's money to compete with the private market".
Es hat in Deutschland nie an kritischen Stimmen gefehlt, die die öffentliche Förderpolitik und den Kurs des DFN- Vereins auf einen international vergleichbaren, pragmatischen und wirtschaftsorientierten Kurs umsteuern wollten, wie in dem bereits zitierten "Quo vadis- DFN?" festgehalten [WaMeu 86], der damals auf heftige Gegenwehr stieß. Spätere Versuche der Neuorientierung waren teils erfolgreich, wenn auch mit großem Verzug (eigenes Netz, Internet- Schwenk, Hochgeschwindigkeitskommunikation), teils zäh oder bislang erfolglos, wie insbesondere mit den Forderungen nach
- Interkonnektion mit den kommerziellen ISPs in Deutschland,
- Unterstützung der Regionalisierung durch bundesweiten Backbone,
- Trennung von Vereins-, Projektförderungs- und Dienstebereich.
Fragt man nach den Verantwortlichen für die jeweiligen Strategien und Entscheidungen, so muß man rückblickend feststellen, daß der DFN- Verein in seinem Handeln nie ausschließlich von seinen satzungsgemäßen Organen, insbesondere der Mitgliederversammlung bestimmt war, sondern maßgeblich durch ein Wohlverhalten dem BMFT/BMBF gegenüber, dem es den wesentlichen Teil seiner Zuwendungen verdankt. So ist es nicht verwunderlich, daß sich der Verein häufig in Zielkonflikten befand, wobei sich bei auftretenden Meinungsverschiedenheiten immer wieder eine Mehrheit in der Mitgliedschaft fand, die aus Sorge vor Mittelentzug bereit war, den jeweiligen politischen Vorgaben zu folgen. Interessanterweise verweist in dem seit langem schwelenden und jüngst akut gewordenen Interkonnektionskonflikt der kommerziellen ISPs mit dem DFN- Verein der BMBF auf die alleinige Verantwortung des Vereins, womit er eigentlich auch recht hat. Ob dies jedoch die Konstruktion war, an die der frühere Forschungsminister Dr. Riesenhuber dachte, als er bei der Vereinsgründung am 30.03.84 von "einem Verein der Kundigen und Verantwortlichen" sprach, wäre eine interessante Frage an ihn. Doch der Verein hat sich ohnehin längst von dem ursprünglichen Gesamtziel entfernt und nimmt die Verbesserung des Wirtschaftsstandorts Deutschland selbst auch nur noch verhalten in den Mund. Ob der Forschungsminister dieses geahnt hat, als er 1984 seine Eröffnungsrede mit dem denkwürdigen Toleranzedikt schloß:
Unsere Aufgabe ist es nicht, auf prognostizierte Ziele hin zu entwickeln. Dies wäre dann immer nur die Reproduktion eines status quo, denn Prognose ist nur die Fortschreibung in einem sogenannten überraschungsfreien Raum. Die Wirklichkeit ist durch das Entstehen ständig neuer Ideen gekennzeichnet. Diesen Ideen muß freier Raum gelassen werden. Die Aufgabe besteht auch darin, die Freude an neuen Ideen, den Unternehmungsgeist und den Mut zur Gestaltung freizusetzen. Und an dem wollen wir arbeiten ein jeder an seinem Platz. Für diese Arbeit wünsche ich uns allen Erfolg. Schönen Dank. ?
Mit der zum 01.01.98 beginnenden vollständigen Deregulierung des Telekommunikationsmarktes wird sich die Politik zusammen mit der DFN- Führung überlegen müssen, ob die derzeitige Monopolstruktur im Wissenschaftsbereich ebenfalls dereguliert oder weiter ausgebaut werden soll. Die derzeit auf dem Tisch liegenden Rabattangebote von DFN- Verein und strategischem Dauerpartner Telekom für einen Sprachdienst im B- WiN deuten eher auf letzteres hin.
9. Literatur
[Ad 91] Adams, Rick: "Commercial IP Musts", INET'91, Kopenhagen,18. 20.06.91. [Ca 96] Campos, Ivan: "The External View The Apprentice Strikes Back", Proceedings of the Cheyenne Mountain Workshop, USA, 07.09.08.96
( www.farnet.org/cheyenne/campos).[DFN 84] DFN- Verein: Ansprachen der Gründungsveranstaltung am 30.03.1984. [DFN 85ff] DFN- Verein: "DFN Mitteilungen", Heft Nr. 1, Feb. 1985 ff. [Ka 94] Kalle, Claus: "Step by Step- IP- Entwicklung in Deutschland in kleinen Schritten", iX 10/94. [Ki 85] Kirstein, Peter: "The University College London International Computer Communications Interconnection Service", in "Kommunikation in Verteilten Systemen I", Proceedings der GI- NTG- Fachtagung, 13.15.03.1985, Karlsruhe, (Hrsg. D. Heger, G. Krüger, O. Spaniol, W. Zorn). [MeuWa 86] Meuer, Hans:
Wacker, Martin"Quo vadis DFN?", in Neueste Netz- Nachrichten, Heft Nr. 3, März 1986, Universität Karlsruhe (Hrsg. Johannes Peter, Peter Sandner, Werner Zorn). [Ri 84] Riesenhuber, Heinz: Ansprache am 30.03.1984 [DFN84]. [ZoFr 95] Zorn, Werner:
Fridrich, Egbert"Erste Näherung- Leistungsmessungen im Internet von deutschen Service Providern aus", iX 10/95. [Zo 0597] Zorn, Werner: "Hat Deutschland die Internet- Entwicklung verschlafen?" in Tagungsband "Internet von der Technologie zum Wirtschaftsfaktor" des Deutschen Internet Kongresses 1997 in Düsseldorf, 05.07.05.97, (Hrsg. Klaus- Peter Boden, Michael Barabas) (www.garos.de). [Zo 0697] Zorn, Werner: "Internet in Deutschland ein Trauerspiel" in VDI-Nachrichten Nr.26/97 vom 27.06.1997 (www.ira.uka.de/i32).
10. Abkürzungen
Arpanet Advanced Research Agency Network, US- amerikanisches Vorläufernetz des Internet, vom DoD gefördert. Backbone "Rückgrat" eines Rechnernetzes, meist mit hoher Übertragungsgeschwindigkeit. BelWü Baden- Württemberg Extended LAN, Landeshochschulnetz. BMFT Bundesminister(ium) für Forschung und Technologie. BMBF Bundesminister(ium) für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. CCITT Comité Consultatif International de Télégraphie et Téléphonie. CSNET Computer Science Network, von der US- amerikanischen Hochschulen initiierter Email- Verbund (weltweit). DATEX-P Öffentlicher Datenkommunikationsdienst der Bundespost/ Deutschen Telekom auf Basis X.25. DESY Deutsches Elektronen Synchroton, Großforschungseinrichtung mit Sitz in Hamburg. DFN Deutsches Forschungsnetz, vom BMFT/BMBF gefördertes Projekt und gleichnamiger Verein. DoD Departement of Defence, US- amerikanisches Verteidigungsministerium. DV Datenverarbeitung. EARN European Academic Research Network, von der Fa. IBM initiiertes europäisches Wissenschaftsnetz. Ethernet Standard für verbindungslose Datenübertragung in LANs (Schicht 2). EUNET Europäisches Unix Network, kooperatives europäisches Netz von UNIX Rechnern. IP Internet Protocol, verbindungsloses Netzwerkprotokoll zu Übertragung von Datenpaketen im Internet (Schicht 3). ISDN Integrated Services Digital Network, Dienste-integrierendes digitales Netz, Standard und gleichnamiges Fernmeldenetz der Deutschen Bundespost/ Telekom. ISO International Standardization Organization. ISP Internet Service Provider. IuKDG Informations- und Kommunikationsdienste- Gesetz. JANET Joint Academic Network, englisches Wissenschaftsnetz. LAN Local Area Network, lokales Rechnernetz. NSFNET National Science Foundation Network, von der US- amerikanischen NSF gefördertes Wissenschaftsnetz und gleichnamiger Backbone. OSI Open Systems Interconnection, von der ISO standardisiertes Architekturmodell für die Kommunikation in vernetzten Offenen Systemen. RFC Request for Comments, Vorschlag für einen Internet- Standard. TCP Transport Control Protocol, Transportprotokoll im Internet (Schicht 4). TEN-34 TransEuropean Network, europäischer Wissenschafts- Backbone und gleichnamiges Konsortium, z. Z. mit 34 Mbps- Geschwindigkeit. ÜRF Überregionales Forschungsprogramm Informatik des BMFT. WAN Wide Area Network, Weitverkehrs- Rechnernetz. WiN Wissenschaftsnetz des DFN- Vereins (9.6/64/128 kbps, 2 Mbps, 34/155 Mbps). X.25 CCITT/ISO Standard eines Netzwerkprotokolls für paketvermittelte Datenkommunikationsdienste.
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